3. Oktober 2012

Nicht in Venedig unterwegs...

Turm, in dem Michel de Montaigne seine Werke schrieb
... sondern ein paar Tage in Frankreich, im Périgord, genau gesagt in St. Michel de Montaigne. Dem Ort, in dem der gleichnamige Essaist, Gutsbesitzer, Politiker im 16. Jahrhundert geboren wurde, weitgehend lebte und starb.

Die Verbindung zu Venedig existiert natürlich, denn selbstverständlich besuchte Herr de Montaigne Venedig, und zwar eine einzige Woche während eines 17monatigen Aufenthalts in Italien, den er bzw. zum Teil ein Sekretär im "Tagebuch einer Reise nach Italien" beschreibt. Venedig hat ihn nicht umgehauen, meint der Sekretär. Was ja doch verwundert. Vielleicht waren auch seine Erwartungen zu hoch oder seine dauerhafte Trauer zu tief, nachdem der Herzensfreund seiner jungen Erwachsenenjahre, Étienne de La Boétie, der vor Begeisterung und Verehrung für Venedig glühte, noch jung ein Opfer einer Seuche wurde.

Der Sekretär schreibt jedenfalls recht unbeeindruckt:
"Was in Venedig eine nähere Befassung lohnt, dürfte ja hinreichend bekannt sein. Herr de Montaige meinte, er habe sich eigentlich alles anders, das heißt imposanter vorgestellt." 
(Der Besuch findet im Jahr 1580 statt, als Michel de Montaigne in der frischen Blüte seines schriftstellerischen Ruhms steht. Und sechs Jahre nachdem sein König, Henri III, auf einem Zwischenstop auf dem Weg von seinem polnischen zu seinem französischen Königreich in Venedig rauschend empfangen und bombastisch gefeiert worden war. Denn Venedig brauchte für seine Türkenprobleme die Kooperation des eigentlich türkenfreundlichen Frankreich.)

Wendeltreppe im Turm Montaigne
"Gerade deshalb aber erkundete er die Stadt besonders aufmerksam, um vielleicht doch hinter das Ungewöhn-
liche zu kommen, das sie auszeichne. Und tatsächlich beeindruckte ihn manches - am meisten das Arsenal und der Markusplatz, ebenso aber die öffentliche Ordnung, das bunte Gewimmel der Menschen aus aller Herren Länder und nicht zuletzt die geographische Lage. "

Herr de Montaigne hatte trotz seines Prominentenstatus vermutlich keine Chance, andere als öffentliche Anlagen (und Kirchen etc.) zu besuchen, also keinen der Palazzi, die heute, egal in welcher Funktion, besichtigt werden können. VenezianerInnen war der Kontakt zu AusländerInnen verboten, aus Sicherheitsgründen. Bei geschäftlichen Kontakten waren Staatsbeamte anwesend zur Kontrolle von Warenaustausch, Abfuhr von Zöllen, Gebühren etc.. Ansonsten hatten BesucherInnen der Stadt, so auch Herr de Montaigne, allenfalls Kontakt zu ihrem Botschafter (in diesem Fall zu Herrn du Ferrier, der seinerseits privat nicht mit VenezianerInnen verkehrte). Und diverse Gebäude die uns heute tief beeindrucken, z. B. die Salute, S. Giorgio Maggiore, existierten noch nicht.


Arbeits- und Ruheraum Montaignes, 1. Etage des Turms
(nicht Montaigne's Bett, nicht "Montaigne's Katze", sondern
die des derzeitigen Schlossbesitzers, die sich gerne im
Turm aufhält...)
"Montag, den 7. November, erschien bei ihm, als er gerade zu Abend aß, ein Bote und brachte ein Geschenk. Signora Veronica Franca, eine venezianische Edelfrau und Kurtisane, die selber dichtet, schickte ihm ihr jüngstes Werk, ein Bändchen Briefe. Herr de Montaigne ließ dem Mann zwei Taler geben."
Davon abgesehen, dass der Name Veronica Franco falsch notiert wurde, könnte Herrn de Montaigne Frau Franco unterschätzt haben. Sie war eine  respektierte Kurtisane und auch Schriftstellerin, die sechs Jahre zuvor die Aufmerksamkeit Henris III auf sich zog, sehr zum Ärger der weiblichen venezianischen Gesellschaft. Nach all dem Aufwand seines Empfangs (Triumphbogen von Palladio auf dem Lido, Empfang an der Piazzetta, Unterbringung in der Ca' Foscari inklusive einer zur Unterhaltung des Königs nächtlich auf dem Canal Grande schwimmenden und lautstark arbeitenden Glasbläserei, aufwändigste Gastmahle etc.) interessierte er sich auf dem pompösen Ball zu seinen Ehren nicht für die versammelte Noblesse, sondern für Signora Franco, und das auch noch intensiver als nachhaltige Gerüchte seiner Homosexualität hätten erwarten lassen.

Bibliothek im Arbeitsraum, 2. Etage,
leider in alle Winde zerstreut
Siehe auch unten Video des Arbeitsraumes
"Die Liebesdamen Venedigs sind berühmt für ihre Schönheit; Herr de Montaigne konnte sich diesem verbreiteten Urteil freilich nicht anschließen, obwohl er die vornehmsten der Frauen besucht hat, die mit selbiger Handel treiben. Jedoch wunderte er sich, sie in solcher Menge - etwa hundertfünfzig - anzutreffen; auch machte es ihn stutzig, dass sie sich hinsichtlich Kleidung und Mobiliar einen fürstlichen Aufwand zu leisten vermögen, wo sie doch einzig dieses Gewerbe als Verdienstquelle haben. Viele einheimische Adelige halten sich eine solche Kurtisane für sich allein und erstatten ihr sämtliche Ausgaben; jedermann weiß es, und niemand stört sich daran." 
Was lässt sich daraus schließen? Herr de Montaigne hat das Angebot geprüft, es entsprach in Qualität und Preis nicht seinen Vorstellungen? Die Trauben waren ihm zu sauer? Im Gegenzug kommt er moralisch und mißgönnt den Kurtisanen ihren Wohlstand und den Freiern ihre Unbekümmertheit?
Wer die "Essais" liest, kann sich das kaum vorstellen. Ich glaube: der Sekretär, der die Niederschrift dieses Teils des Reisetagebuchs besorgt, riskiert bei diesem etwas heiklen Thema nichts und passt seine Meinung der gesellschaftlich gültigen an. Und Montaigne selbst, der ohne Ende, bis zu seinem Tod, an Ergänzungen der "Essais" schrieb und schrieb, sah sich wohl nicht zu weiterer Ausführlichkeit des extrem kurzen Venedig-Berichts veranlasst. Mir als Venedig-Bloggerin ist allerdings rätselhaft, wie der Vielschreiber Montaigne zum Thema Venedig derartig kurz angebunden sein konnte. (Noch was zum Thema Kurtisanen)

"Herr de Montainge mietete sich eine Gondel für Tag und Nacht, was ihn einschließlich Bootsführer zwei Livrees kostete, also etwa siebzehn Sous.
Die Preise für Essen und Trinken entsprechen etwa Pariser Verhältnissen. Dennoch lebt man wohl nirgends auf der Welt so billig wie in Venedig: erstens benötigt man kein Gefolge, denn es ist üblich, dass jeder allein geht; zweitens muss man auch an Kleidern keine Verschwendung treiben; drittens braucht man keine Pferde."
Was sagt mir das? Vielleicht: im Venedig des 16. Jahrhunderts wurde gutes Geld ausgeben für Sex und Gesellschaft, Essen und Trinken. Preiswertgünstiger scheinen Mobilität durch eigene Gondeln & Gondolieri sowie Selbstdarstellung in Bezug auf Kleidung und 'Gefolge' (das de Montaigne bei sich hatte, eine ganze Reisegruppe, genau genommen) gewesen zu sein. Letzteres empfiehlt sich ohnehin nicht engen venezianischen Gassen und erstere entsprach vielleicht nicht ganz dem Aufwand, der in Paris gemacht wurde. Aber Bescheidenheit in Kleiderfragen war eher keine venezianische Tugend.

Die Feststellung, man lebe nirgends auf der Welt so billig wie in Venedig, hat sich mittlerweile überholt, wie wir alle wissen.

(Fetter Text zitiert aus: Michel de Montaigne; Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland. Diogenes 2007. Übersetzung von Ulrich Bossier)

Unterkunft in St. Michel de Montaigne: Relais de la Renaissance




1 Kommentar:

Irmgard hat gesagt…

Liebste Iuno, ich komme ja mit dem Lesen gar nicht mehr nach vor lauter Arbeit, füllte aber gerade meine Gewerkschaftspause mit der Blog-Lektüre und bin mal wieder beeindruckt. Insbesondere die verborgenen Kirchen haben es mir angetan. Und Deine unterhaltende Diktion ist wirklich gottvoll - sehr passend zur Göttermutter! Wieso nennst Du Dich eigentliche nicht Hera, wo Du doch auch Griechenland resp. Hellas-Fan bist...?! Bin im November wieder in Venedig und werde Deinen Routen folgen. Grüße von Irmgard