28. Juli 2013

Biennale ohne Ticket (2013)

Trifft voll in mein Humorzentrum:
Piranha and Fish-eating People, Wei Yan.
Ausstellung 'Voices of the Unseen'

Es gibt bereits von der Biennale 2011 einen Eintrag mit dem Titel Biennale ohne Ticket, und auch in diesem Jahr sei auf diese Möglichkeit hingewiesen. Eine Biennale-Eintrittskarte ist, finde ich, preisgünstig, verglichen mit sonstigen Eintritts-
preisen in Venedigs Museen (abgesehen vom unschlagbar billigen Museo Storico Navale, das dem Verteidigungsministe-
rium gehört).

Aber Giardini + Arsenale an 2 Tagen sind eine Herausforderung an Aufnahmefähigkeit und Zeit, nicht jede/r hat ganze 2 Tage für die Gegenwartskunst, und wer die nicht hat, kann möglicherweise auch nicht die tollen kostenlosen Biennale-Angebot und "collateral events" überall in der Stadt und auf den Inseln abzuklappern.

Also Kompromisslösung: die Ausstellungen im Arsenale novisssimo, kostenlos zu betreten über die  Nordeingänge des Arsenale. Öffnungszeiten sind die gleichen wie alle Biennale-Zeiten, Di-So 10-18 Uhr. Die Ausstellungen sind wieder sehr interessant und vor allem sehr chinesisch, wie sich auch in der Stadt die Zahl chinesischer KünstlerInnen mit jeder Biennale erhöht. 
Das Spektrum ist riesig, die großen Hallen ("tese") des Arsenale novissimo sind nicht überlaufen und vor allem etwas luftiger als viele andere Ausstellungsräume, man kann einen guten halben Tag oder mehr dort verbringen, muss aber unbedingt Wasser und Proviant dabei haben, es gibt keinerlei Verkauf. Aber sanitäre Einrichtungen, immerhin.


Ausstellung 'Voices of the Unseen':
Han Zijian, Three Lu Xun, 

Detail einer
Skulpturen-
installation












 


Wer durch die Fenstertür an der Arsenalemauer einsteigt, landet sofort in der enormen, mehrere Hallen (Tese di S. Cristoforo 92, 93, 94 und Nappa 91) füllenden Ausstellung "Voice of the Unseen, Chinese Independent Art 1979 - now". Wobei sich die Frage stellt, was heißt unabhängig? Wovon, von wem? Fast alle chinesischen Ausstellungen in Venedig laufen unter der Marke 'unabhängig', außer der nationalen Ausstellung im Arsenale, aber die würde sich nicht als 'abhängig' definieren. Da landet die Kunst im Politischen, was in Ordnung ist, aber den/die normale/n KunstkonsumentIn und durchschnittlich politisch bewußte/n Globalisierte/n (wie mich) etwas überfordern mag. Aber: sehr beeindruckend, mit teils großartigen Werken, aber auch (mit westlichen Augen gesehen) skurrilen.

Z. B. die 5 unvorstellbar dicken Herrscherfiguren von Tian Shixin (sehenswerter Film über den Künstler). Das Format der Herren ist vermutlich symbolisch (was symbolisiert der Umfang eines Herrschers? Machtfülle? Fülle der Weisheit? keine Ahnung), trotzdem kommen leise Zweifel an der Gegenwarts-
kunst auf. Nutzt die Gelegenheit! Jede/r sehr Dicke (richtig Dicke!), und die, die sich sehr dick fühlen, stellen sich mit dem Rücken zu den dicken Herrschern und knipsen die Spiegelwand gegenüber. Das Foto von sich + den dicken Herrschern wird an FreundInnen, Verwandte, KollegInnen gemailt, unbedingt an alle, die sich schon Kommentare zum Thema Übergewicht geleistet haben. Dann sammle man die eintreffenden Glück-
wünsche zum neu geformten Körper ein, denn da niemand weiß, wie unglaublich dick die Chinesen sind, verführen sie zu völliger Fehleinschätzung der Person, die mit ihnen auf dem Foto ist. Grandioser Erfolg!




Mehr chinesische Kunst läuft auf diesem Gelände unter dem Titel "Passage to History, 20 Jahre Biennale und chinesische zeitgenössische Kunst" (Nappa 89) und "Mind Beating" (Spazio Thetis) und "Crossover" (Tesa 113). 
(Noch mehr chinesische Kunst an mehreren Orten in der Stadt und im natioanlen Pavillon VR China im ticketpflichtigen Bereich des Arsenale.)

Eine schöne, kontemplative Installation "Outpost" von Samar Singh Jodha in der dunklen, fast leeren Hälfte der Nappa 90 gefiel mir sehr gut. Fast hätte ich sie übersehen, da sie zwischen den raumgreifenden Chinesen und Andorra im Dunkeln quasi versteckt ist.

Andorra, Samantha Bosque

Andorra also, auch in der Nappa 90, stellt 3 differenzierte junge KünstlerInnen aus. Die Werke von Javier Balsameda, Samantha Bosque und Fiona Morrison sind intensiv und bewundernswert jedes auf seine Weise, am stärksten berührt hat mich das schöne, melancholische Video "Two walks" von Fiona Morrison. Unbedingt in Ruhe und ganz ansehen.


In der Tesa 100 gibt es (zusätzlich zum nationalen Pavillon am Campo S. Stefano) eine Ausstellung "Love me love me not", Azerbaijan und Nachbarländern. Mit reizvollen und originellen Exponaten (z. B. eine spuckende Ölquelle, das schwarze Gold...), teils auch ziemlich folkloristisch. 

In der Tesa 105 stellt das Projekt Ars Aevi aus. Während der Belagerung von Sarajewo 1993 wurde das Projekt zum Bau und zur Ausstattung eines Museums für zeitgenössische Kunst in Sarajewo gegründet. Die Projektträger haben Kunstwerke gesammelt, die z. T. hier gezeigt werden, Baubeginn des Museums, Plan von Renzo Piano, soll 2014 sein. 
Gleichzeitig ist die Tesa 105 ein hochinteressantes Beispiel für die Konvertierung eines sehr alten Industriegebäudes in ein Bürogebäude unserer Zeit: gläserne Büroräume auf mehreren Etagen, Konferenz- und Ausstellungsräumlichkeiten. Man sollte die Gelegenheit nutzen, ungeniert diese Räumlichkeiten inspizieren.

Büroraum, eingebaut in die Tesa 105. (Ausstellungsräume Ars Aevi)

Im Turm der Porta Nuova gibt es eine Installation von Shirazeh Houshiary, die ich nicht verstanden habe. Breath. Rätselhaft. Habe ich nicht ordentlich geguckt? Ich habe auch nichts gehört, hätte ich sollen? Hat die Sache nicht funktioniert? 
Für Interessierte ein wichtiger Tipp: die Ausstellung findet auf der 1. Etage und auf der 3. (oder 4.?) statt. Jedenfalls Treppen ohne Ende, und je höher, desto heißer ist der Turm. Auf meine Nachfrage erfuhr ich: die Besucher sollen ruhig zu Fuss nach oben schnaufen, das sei Teil des Kunsterlebnisses. Wer aber nach einem Aufzug fragt, wird freundlich hinein-
gestellt und fährt nach oben. Na also!


Und natürlich kann man vom Nordufer des Arsenale novissimo das S.S. Hangover bewundern, wie es mit einem fetten Pegasus auf dem Segel den ganzen Tag lang immer wieder langsam und feierlich aus einer der beiden Gaggiandre des Arsenale (Wasserdocks, erbaut 1568-73) gleitet, während eine 6köpfige Blaskappelle einen herrlich melancholischen Choral spielt und auf den Punkt mit Ende des Stücks in die andere Gaggiandra zurückkehrt. 
Das ist ein Teil des "Palazzo encyclopedico" und Werk des isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson (Komposition: Kjartan Sveinsson), der bei der Biennale 2009 der Künstler des isländischen Pavillons war und 6 Monate lang im Palazzo Michiel da Brusà malte und Bier trank. Ich finde seine Arbeit großartig.


 
Mehr davon, bessere Aufnahme
Interview mit Ragnar Kjartansson


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1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Unbedingt sehenswert auch Azerbaijan: Palazzo Lezze San marco 2949